Interview mit der Zeitschrift

SèparèeTrendy Single "

März 2015

Interwiev: Janina Gatzky

Fotos: Alexandra Schimske 

Sex für die

S E E L E

Guido Dippel, Tantramasseur und 2. Vorsitzender des deutschen Tantramassage-Verband e.V., über  neue Berührungsqualitäten, den Spagat zwischen Prostitution und Massage und den Wert der Achtsamkeit.

 

Séparée: Aber nochmal: Warum hängt man einen sicheren Job als Prozessplaner an den Nagel?

Guido Dippel: Gute Frage. Ich hatte mich eigentlich in meiner Komfortzone eingerichtet, 35 Stunden die Woche, aber etwas fehlte. Ich war nur noch eine Nummer im System. Jetzt empfinde ich wieder große Freude bei der Arbeit, auch wenn es finanziell enger ist. Es ist eine ganz andere Wertschätzung. Geld ist nicht alles. Klar braucht man was, um sich ernähren zu können und die Wohnung zu bezahlen. Aber jetzt habe ich Erfüllung und Wertschätzung gefunden.

 

Séparée: Die meisten Tantramasseure sind Frauen. Wie wird man als Mann in diesem Beruf wahrgenommen?

Guido Dippel: 95 Prozent aller Masseure sind Frauen, weil mehr Kunden Männer sind. Frauen tun sich noch schwer, eine Tantramassage zu buchen, obwohl es doch immer mehr werden. Sehr viele Frauen interessieren sich sehr für eine Tantramassage, ich kann sie nur ermutigen, zu einem zertifizierten Masseur zu gehen, um zu fühlen, was es für eine Bereicherung sein kann.

 

Séparée: Massieren Sie denn auch Männer?

Guido Dippel: Ja, manchmal. Zuerst ist das für Männer eine große Hürde. Aber es geht ja um den Menschen, nicht um das Geschlecht, obwohl die meisten Männer, die zu mir kommen, schwul sind oder eine Bi-Neigung haben, wenn sie nicht tantraerfahren sind. Es ist aber auch empfehlenswert, gegengeschlechtlich zu massieren. Ying und Yang eben. Bei Frauen ist das Interesse an Tantra sehr groß, aber leider ist bei ihnen da immer noch eine Hemmschwelle. Sie sind nicht so spontan wie die Männer und benötigen im Vorfeld mehr Information.

 

Séparée: Tantra, das klingt nach magischer Sexorgie auf der Yogamatte. Was bedeutet Tantra für Sie?

 

Guido Dippel: Tantra ist eine uralte Lebensphilosophie. Das Wort Tantra kommt aus dem Sanskrit und bedeutet soviel wie „verweben, vernetzen“. Es ist vor Tausenden von Jahren in Indien entstanden, um die Kastensysteme aufzubrechen. Früher gab es durchaus auch Orgien in Tempeln und sogar auf Friedhöfen. Für mich bedeutet Tantra vor allem Ganzheitlichkeit bei der Berührung, nicht nur Arme, Beine und Rücken, sondern auch die Zehen, die Haarspitzen und den Intimbereich einzubeziehen, der ja auch dazugehört. Tantra und Tantramassage haben für mich viel mit Respekt, Würde und Achtsamkeit zu tun.

 

Séparée: Im Westen wird Tantra oft auf sexuelle Aspekte reduziert, die in der eigentlichen Erkenntnislehre gar nicht im Mittelpunkt stehen. Wo sehen Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen Tantra und einem westlichen Umgang mit Sexualität?

Guido Dippel: Sex im Westen ist mehr auf das Körperliche beschränkt. In unserer Gesellschaft ist das Ziel beim Sex der Orgasmus. Ohne ist der Sex nicht gut. Beim Tantra geht es aber auch darum Seele und Geist einzubeziehen.

 

Séparée: Sie haben sich nach eigener Aussage auf den tantrischen Weg gemacht. Wie würden Sie diesen Weg beschreiben? Von wo sind Sie gestartet und wo soll die Reise hingehen?

Guido Dippel: Es gibt kein Ziel. Ich folge meiner Intuition, dass ich der Gesellschaft, so wie sie heute existiert, noch etwas zu geben habe. Mein Weg begann bei meiner Geburt. Durch Zufall bin ich auf die Tantramassage gekommen. Das hat mir gezeigt, dass es etwas gibt, wo achtsam mit den Menschen und ihrer Sexualität umgegangen wird. Das gilt natürlich auch für andere Bereiche des Lebens. Achtsamer zu sein, zuzuhören, weg von der Oberflächlichkeit. Die meisten Leute wollen doch gar nicht wissen, wie es dem anderen geht, wenn sie fragen „Wie geht’s?“.

 

Séparée: Genau aus dem Grund wollen wir ja gern von Ihnen wissen, wie denn eine Tantramassage üblicherweise abläuft, damit man eine Vorstellung hat, was einen erwartet.´

Guido Dippel: Frauen schreiben mich meistens im Vorfeld an und fragen nach. Beim Termin selbst beginne ich zuerst mit einem Vorgespräch. Das dauert so 15-30 Minuten. Ich möchte wissen, was die Frau bewegt, zu mir zu kommen. Dann kann sie sich in aller Ruhe frisch machen oder duschen und sich umziehen. Sie trägt dann einen Lungi (Anm. d. Red.: asiatischer Wickelrock) oder einen Kimono.

 

Séparée: Und was tragen Sie?

Guido Dippel: Ich trage auch einen Lungi. Dann betreten wir gemeinsam den Massageraum. Die Massage beginnt mit einem Ritual. Ich heiße sie herzlich willkommen und lade sie auf eine Reise ins Zentrum ihrer Weiblichkeit ein und sage ihr, dass alles willkommen ist, was an Gefühlen aufkommen mag. Die Lust, aber auch die Traurigkeit, was bei Frauen auch öfters mal aufkommt, weil sie noch nie so berührt worden sind. Ich bitte sie, mir ein klares Zeichen zu geben, wenn etwas zu intensiv oder unangenehm ist. Dann entkleide ich mich und dann auch sie. Zuerst berühre ich ihren Rücken im Stehen, dann liegt sie auf dem Bauch. Ich massiere die Beine und Arme. Außerdem läuft Musik, die zur Entspannung beiträgt.

 

Séparée: Das klingt jetzt erst einmal nach einer ganz normalen Entspannungsmassage.

Guido Dippel: Am Anfang ist die Frau sicher noch sehr im Kopf. Der Alltag steht noch im Vordergrund. Gedanken wie, habe ich das Auto richtig geparkt, etc. Dann kommt meist eine Art Schlafphase, bevor es dann zu einem intensiven Fühlen, Entspannen und Fallenlassen kommt. Zuerst wird der hintere Teil (Yang) massiert, dann darf sie sich drehen. Ich streiche die Vorderseite (Yin) aus, massiere das Herz, die Brüste, den Bauch und zum Schluss die Yoni. Mit Yoni ist der Intimbereich gemeint. Das bedeutet, ich erwecke alles, was zum Schoß der Frau gehört, auch die Gebärmutter, die Eierstöcke. Zuerst findet eine ausführliche Massage der äußeren Yoni statt, wie zum Beispiel äußere und innere Schamlippen. Bevor es in die Yoni geht, frage ich, ob ich den „Tempel“ betreten darf. Ich tauche ganz langsam mit einem Finger in die Yoni ein. Da ist meist schon ganz viel los, wenn man als Masseur achtsam fühlt. Stellen, die heißer sind, die pochen. Manchmal spürt die Frau auch einen Schmerz. Das kann viele Ursachen haben, auch sexueller Missbrauch, aber auch andere emotionale Erlebnisse, die das Unterbewusstsein schon längst verdrängt hat. Gerade der Schoß der Frau speichert viel Verdrängtes des Unterbewusstseins. Ich massiere jede Stelle. Ein Schmerz kann sich auch ganz schnell auflösen und aus dem Schmerz kann Lust entstehen. Lust und Schmerz sind nah beieinander.

 

Séparée: Ist es Ihr Ziel, dass die Frau zum Orgasmus kommt?

Guido Dippel: Nein, ich massiere nicht gezielt auf einen Orgasmus. Er ist willkommen, so wie Weinen oder Traurigkeit. Oft kommen während einer Tantramassage Bilder hoch, Kindheitserinnerungen, schöne Erfahrungen und Träume. Es ist sehr wichtig, als Masseur achtsam und präsent zu sein, zuzulassen, was im Moment da ist. Der Mensch!

 

Séparée: Wie baut man denn in so kurzer Zeit ein solches Vertrauen auf, dass man sich als Frau wirklich öffnen kann und vielleicht sogar zum Orgasmus kommt? Die Situation ist ja noch wesentlich intimer als ein Frauenarztbesuch und da ist mir weiß Gott nicht nach Orgasmus.

Guido Dippel: Ich denke, zum einen ist es meine persönliche Ausstrahlung und meine ruhige Art. Außerdem schaffe ich Vertrauen in einem ausführlichen Vorgespräch. Durch das Ritual wird weiter viel Vertrauen aufgebaut. Ich halte ihre Hände. Mit tiefen Atemzügen verabschieden wir gemeinsam den Alltag. Ich schaffe einen geschützten Raum und begleite sie mit Würde, Respekt und bin ganz nur für sie da. Ich bin selbst erstaunt, wie schnell das geht. Aber bevor es zur Yonimassage kommt, gibt es so viele Sequenzen, die sich ungewöhnlich gut anfühlen und besonders sind, dass mir oft nach der Massage bestätigt wird, dass es für die Frau gar nicht mehr komisch war, sich intim von mir berühren zu lassen.

 

Séparée: Ich kann mir vorstellen, dass es hilft, dass auch Sie nackt sind. Da begegnet man sich sozusagen auf Augenhöhe. Aber wissen die Partner ihrer Kundeninnen von der Tantramassage? Sind Sie nicht misstrauisch oder eifersüchtig, dass sich ihre Frau von einem anderen Mann befriedigen lässt?

Guido Dippel: Ja, das ist auch so gewollt mit der Augenhöhe, sich auf der gleichen natürlichen Ebene zu begegnen, macht es leichter. Wie Sie das schon mit dem Frauenarzt erwähnt haben. Der ist ja angezogen und die Frau liegt entblößt vor ihm. Was den Partner betrifft, ist es sicher unterschiedlich. Ein Teil weiß bestimmt davon. Ich glaube, die Frau erzählt eher ihrem Mann davon, als ein Mann seiner Frau. Da frage ich aber auch nicht nach, wenn es nicht erwähnt wird, denn es geht mir bei einem Termin in erster Linie um den Menschen, der zu mir kommt.

 

Séparée: Ist der Gang zum Tantramasseur denn nicht eigentlich eine Art Fremdgehen?

Guido Dippel: Es ist kein Küssen dabei, und es kommt ja zu keiner sexuellen Vereinigung. Ich glaube, das ist so eine Grenze, die viele in unserer Gesellschaft als Exklusivrecht einer Partnerschaft betrachten. Aber auch das liegt immer im Auge des Betrachters. In einer Tantramassage geht es um das ganzheitliche Berühren und Erleben und da gehört der Intimbereich zu.

 

Séparée: Ich versuche mir die Situation gerade vorzustellen. Erregt Sie eigentlich die Arbeit, und wie halten Sie Ihre Lust im Zaum?

Guido Dippel: Ja, es kann sein, das ich erregt bin. Aber die Rollen sind ganz klar verteilt. Nehmende und Gebender. Es geht ja darum, dem Menschen etwas zu schenken, was er so nicht erlebt. Ich kann meine Lust sehr gut bei mir behalten und gehe nicht in eine aktive Rolle, um diese Lust zu befriedigen. Meine Lust darf einfach sein. Die Lust, die ich spüre, wird reflektiert. Es ist wie ein Spiegel.

 

Séparée: Wie kann eine Tantramassage zu einem intensiveren Fühlen, zu mehr sexueller Energie beitragen? Und warum ist diese Energie überhaupt so wichtig für uns (Frauen)?

Guido Dippel: Es geht darum, Lust mal anders zu erwecken und zu erfahren. Wenn ein Ehepaar Lust auf Sex hat, läuft das meist nach dem Prinzip ab: küssen, Brüste stimulieren, Yoni stimulieren, Sex. Bei einer Tantramassage entdeckt man den ganzen Körper. Die sexuelle Energie ist eine Urenergie, ohne die wir alle gar nicht existieren würden. Wenn sie gut gelebt wird, wirkt sie sich positiv auf viele Aspekte des Lebens aus.

 

Séparée: Welche Frauen kommen zu Ihnen? Was sind ihre Beweggründe?

Guido Dippel: Viele Frauen wollen ihre Weiblichkeit neu oder wieder entdecken, sich wieder als Frau fühlen. Manche Frauen hatten schon mit Sex abgeschlossen und sich gesagt: Ich widme mich einem Hobby oder meiner Karriere. Aber dann fühlen sie, da muss es doch noch was geben. Wenn Frauen zuhause nicht mehr zufrieden sind, meist so ab 40, ändert sich was. Sie „erinnern“ sich, da war doch noch was mit Erotik, aber der Sex ist eingefahren. Die Frauen versuchen darüber zu reden, aber viele Männer verweigern solche Gespräche. Dann suchen sie, was es noch gibt. Manchmal kommen auch Frauen mit sexuellen Dysfunktionen, mit Orgasmusschwierigkeiten oder Schmerzen, das kann auch aufgrund von sexuellem Missbrauch sein. Sie suchen eine neue Berührungsqualität, ein neues Körpergefühl. Ich bekomme oft als Feedback, dass eine Frau ihre Lust, ihre Sexualität durch die Massage wiedergefunden hat.

 

Séparée: Wie erleben Sie die Frauen während der Massage und danach?

Guido Dippel: Beim ersten Mal sind sie sehr nervös, haben meist unruhig geschlafen, sind gespannt, was passiert. Während der Massage merke ich dann, wie die Frau aus dem Kopf rausgeht und ins Fühlen kommt. Es ist ein wundervolles Gefühl, dass die Massage diese Wirkung hat. Zu erleben, wie schön jede Frau ist, die sicher in meinem früheren Leben nicht mein Gefallen gefunden hätte, wenn sie sich in ihrer natürlichen Hingabe zeigt. Was mich beeindruckt ist, wie viel Klarheit und Lebensfreude nach der Massage in den Augen zu sehen sind, die vorher wie verschleiert waren. Erstaunlich ist auch zu hören, dass nach einer Massage viele Frauen davon berichten, von ihrer Umwelt ganz anders gesehen zu werden.

 

Séparée: Séparée: Wann sollte man zu einem Tantramasseur gehen? Bevor man fremdgeht, weil man in der eigenen Beziehung frustriert ist?

Guido Dippel: Ich lade alle Frauen ein, den Weg zu beschreiten und eine andere Qualität kennen zu lernen. Normalerweise ist Sex ein Geben und Nehmen. Bei einer Massage kann man mal nur für sich etwas tun. Nur fühlen. Es ist eine Bereicherung für die Frau und das Sexualleben.

 

Séparée: Tantra ist ja ein vielstrapazierter Begriff. Wie finde ich denn einen guten Tantramasseur? Wie erkenne ich, ob jemand wirklich Ahnung hat oder nur den Begriff als Verkaufsargument benutzt?

Guido Dippel: Das ist in der Tat nicht einfach. Der Name „Tantra“ ist nicht geschützt. Viele springen auf diese Modeerscheinung auf. Auf der Seite des deutschen Tantramassageverbandes findet man Institute und Masseure, die eine zertifizierte Ausbildung genossen haben. Außerdem ist natürlich der persönliche Eindruck wichtig. Man sollte auf sein Bauchgefühl hören, vorher in Kontakt treten und sich Fragen beantworten lassen, die hochkommen. Wenn man Bedenken hat, rate ich ab.

 

Séparée: Kann Tantra Beziehungsprobleme lösen?

Guido Dippel: Über eine Paarmassage kann man einen neuen Zugang zur eigenen Sexualität finden. Ich biete auch eine Art Berührungscoaching für Paare an. Man lernt Techniken, wie man den Körper des anderen achtsam berührt, wie man achtsam in die Aura eintaucht, spürt, was da an Regungen passieren kann.

 

Séparée: Wie kann man Tantra in den sexuellen Beziehungsalltag sinnvoll einbinden?

Guido Dippel: Einfach achtsam miteinander umgehen. Sich Zeit nehmen, ein schönes Ambiente schaffen und dem anderen anbieten: Heute bist nur du im Mittelpunkt. Man muss ja nicht immer Sex haben. Wobei, eine Vereinigung kann auch über Stunden gehen ohne erigiertes Glied, wenn man eine Herzverbindung schafft. So kann man auch Ungewohntes intensiv fühlen.

 

Séparée: Was war für Sie bisher das bewegendste Erlebnis als Tantramasseur?

Guido Dippel: Mir lief mal ein Schauer über den Rücken, als eine Frau plötzlich in einer Ursprache sprach. Sie war wie in Trance. Aber damit bin ich sehr vorsichtig. Für mich gehört die Tantramassage nicht in die esoterische Ecke. Ich hatte auch einmal eine Kundin, die nach 55 Jahren innerhalb von drei Stunden ihren ersten Orgasmus hatte. Oder eine Frau mit amputierter Brust, die nach der Massage meinte, es habe sich angefühlt, als sei alles noch da.

 

Séparée: Sie sind 2. Vorsitzender des deutschen Tantraverbandes. Offenbar braucht auch die Tantramassage eine Lobby.

Guido Dippel: Mir ist es ein Herzensanliegen, die Tantramassage gesellschaftsfähig zu machen und aus der Schmuddelecke herauszuholen. Dass auch Ärzte eine Tantramassage empfehlen, was der eine oder andere ja auch schon tut. Es geht um viel mehr als Sex. Jeder sollte das mal erleben, um einen neuen Zugang zu sich zu finden.

 

Séparée: Vielen Dank für das angenehme Gespräch.

©Guido Dippel, Alle Rechte vorbehalten